Wunderheilung am Zauberberg – Die „Zeit“ über Davos

"Durch bloßes In-Davos-Sein."

VON ULRICH STOCK – Quelle: www.zeit.de

Von keinem Stoff sind wir so abhängig wie von der Luft. Ohne sie überleben wir nur vier Minuten. Ihre Zusammensetzung lässt sich verändern – und damit sogar das Klima. In Davos ist die Luft so rein, dass sie Leiden lindert – früher Tuberkulose, heute Allergien.

Von Hamburg bis dort hinauf, das ist aber eine weite Reise! Zwei Tage währt die Fahrt des jungen Mannes mit dem Zug in die Schweiz, »dahin über Schlünde, die früher für unergründlich galten«. Und wie die Dampfmaschine im Gebirge sich quält! Gebannt legt der Schiffbau-Ingenieur seine Lektüre aus der Hand, ein Buch über Ocean Steamships , »indes der hereinstreichende Atem der schwer keuchenden Lokomotive seinen Umschlag mit Kohlenpartikeln verunreinigte«.

So steht’s bei Thomas Mann im Zauberberg : Luftverschmutzung im Nebensatz, Emission durch Fernverkehr. Nun, damals hatte man andere Sorgen. Es war die Zeit vor dem ersten großen Krieg, und jener Hans Castorp aus Hamburg, fertig studiert, zur Karriere bereit, wird von seinem Arzt statt auf die Werft in die Berge geschickt: »Mit Norderney oder Wyk auf Föhr, sagte er, sei es dieses Mal nicht getan.« Also auf nach Davos, sind ja nur drei Wochen!

Sieben Jahre werden es dann, der kränkliche Kurgast sinkt ein ins Sanatorium. Erst der Krieg reißt ihn wieder heraus; tausend Seiten europäischer Sitten- und Röntgenbilder liegen dazwischen. Als der Roman 1924 erscheint, macht er den Autor, der schon die Buddenbrooks geschrieben hatte, noch weltberühmter.

Zauberberg ist nach wie vor ein Zauberwort in Davos, der höchstgelegenen Stadt Europas, dem größten Kurort der Schweiz. Das Historische hat sich allerdings ins Werbliche gewendet. Das Zauberberg ist ein Chinarestaurant, und die Küche eines anderen Hauses, damals Spital, heute Lokal, kalauert auf Plakaten: »Mann war hier. Man isst hier.« Guten Appetit mit Schwindsucht!

Sehr vieles in Davos hat sich in den vergangenen hundert Jahren sichtbar verändert, bloß das Unsichtbare nicht, das dem Menschen durch Mund und Nase in den Körper strömt. Auf Seite 18 nimmt Hans Castorp einen tiefen, probenden Atemzug von der fremden Luft: »Sie war frisch – und nichts weiter. Sie entbehrte des Duftes, des Inhaltes, der Feuchtigkeit, sie ging leicht ein und sagte der Seele nichts.« Sein Urteil, durchaus spöttisch: »Ausgezeichnet!«

Wer als Gesunder nach Davos kommt, wird erst einmal krank, Halsweh, Nasenbluten. Die Trockenheit der Luft nagt an den Schleimhäuten, und der niedrige Druck auf 1600 Metern zwingt den Emporgehobenen zum Kürzertreten und zum Durchatmen. So liegt der gewöhnungsbedürftige Vorzug des Höhenklimas eigentlich in einem physikalischen Mangel: Oben ist weniger Luft als unten.

Aber was ist Luft, und inwiefern kann sie von Ort zu Ort verschieden sein? Ist Luft nicht überall gleich? Die Durchmischung liegt doch in der Natur der Atmosphäre! Fast acht Teile Stickstoff, gut zwei Teile Sauerstoff, und zum Weltraum hin einfach dünner. Auf 5000 Meter Höhe fühlt sich ein Mensch schon nicht mehr richtig wohl; untrainiert ausgesetzt auf 8000 Metern, haucht er alsbald sein Leben aus, und auf 10.000 Metern im Flugzeug schmeckt dem Passagier das Bordfrühstück nur so lange, wie der Kabinendruck stimmt.

Die atembare Luft ist hauchdünn um unsere dicke Kugel: Was sind schon die acht Kilometer Luft gegenüber dem Durchmesser der Erde und der unendlichen Weite des Universums? Wenn uns die Luft in Atem hält, dann in ihrem Bemühen um Ausgleich. Wind weht, wo es Druckunterschiede gibt, die durch regional unterschiedliche Sonnen- und Wärmestrahlung entstehen. Gewitter ereignen sich, um die Spannung zwischen Himmel und Erde abzubauen. Diese Kapriolen des Wetters haben Tradition; man muss sich damit abfinden. Wen der Blitz trifft oder eine Sturmflut heimsucht, der hat eben Pech gehabt.

Dass nun so große Aufregung herrscht bezüglich der Zukunft der Luft hat zu tun mit einem Gas, das gegenüber Stickstoff und Sauerstoff kaum ins Gewicht fällt: Kohlendioxid. Zu 0,0378 Prozent ist es in der Atmosphäre enthalten. Dieser Anteil schwankt, aber er war in den zurückliegenden hundert Jahren, in denen fleißig gemessen worden ist, noch nie so hoch wie jetzt, und er ist seit der industriellen Revolution um gut ein Drittel gestiegen.

Kohlendioxid fängt – wie der Wasserdampf – von der Erde ins All zurückgestrahlte Wärmeenergie auf und hält sie in der Atmosphäre fest. So wird Terra immer wärmer. Treibhauseffekt!

Man darf sich die Zusammensetzung der Luft nicht als etwas Statisches vorstellen. Die anteilig größten Bestandteile scheinen zwar seit langer Zeit kaum veränderlich zu sein, allerdings ist dies mehr ein dynamisches Gleichgewicht unzähliger Prozesse im Ökosystem denn eine Gewissheit auf Dauer. Und was noch beunruhigender ist: Manche von der Menschheit in die Umwelt gebrachten Gase und Partikel können in kleinen Mengen das Klima verändern, weil sie in große Prozesse eingreifen.

Wie komplex von Natur aus alles ist, sieht man an den Stürmen, die das Salz von den Schaumkronen der Ozeane lecken oder den roten Staub aus der Sahara fegen, um mit ihm die schneebedeckten Gipfel über Davos weihnachtlich zu dekorieren. Salz wie Sand greifen als Kondensationskeime in die Wolkenbildung ein. Und was ist mit den vielen Kondensstreifen, die Düsenflugzeuge an den strahlend blauen Davoser Himmel schreiben? In welcher Weise verändern sie das Klima? Man untersucht es noch, und das scheint auch nötig, wächst der globale Luftverkehr doch jedes Jahr um fünf Prozent.

Zur Zeit des Zauberbergs war die Sorge um die Luft noch nicht so perspektivisch wie heute, sondern eine konkrete Frage von Leben und Tod. Jeder siebte Europäer starb hustend, »ein Husten«, wie Thomas Mann notierte, »ganz ohne Lust und Liebe, der nicht in richtigen Stößen geschah, sondern nur wie ein schauerlich kraftloses Wühlen im Brei organischer Auflösung klang«.

Tuberkulose! Man wusste über Jahrhunderte hinweg weder, woher die »weiße Pest« kam, noch, was man gegen sie tun sollte. Da bemerkte ein deutscher Arzt, der sich Mitte des 19. Jahrhunderts als steckbrieflich gesuchter Revolutionär aus Baden in die Schweiz geflüchtet hatte, dass diese Krankheit im Davoser Tal seit Generationen nicht aufgetreten war und allenfalls Auswanderer befiel, die als Zuckerbäcker im Russischen ihr Glück suchten, bis sie reumütig heimkehrten. Alexander Spengler hieß der Fremde, der das unzugängliche Bergdorf zu Europas Höhenklinik machte.

Die reichen Kranken kamen von weit her und ließen viel Geld hier. Oft genug auch das Leben, weil ihr Leiden schon zu weit fortgeschritten war, als dass sie sich wieder hätten erholen können. Als Medizin bekamen sie Ziegenmolke, Cognac mit Milch oder Veltliner Wein, dazu rustikale Speisen; zusätzlich wurden kräftige Duschen verordnet und stundenlanges Ruhen im Freien, in Bärenfelle eingemummelt, auf den zur Wintersonne ausgerichteten Balkonen.

»Die Kranken brachten oft ganze Schachteln voll von Quecksilber-, Antimonial-, Baryt- und Cicutapulvern mit«, notierte die Schweizerische Zeitschrift für Medizin, Chirurgie und Geburtshilfe 1845, »sie blieben aber in Davos unberührt«, und aus heutiger Sicht war das gewiss auch besser so.

Manchen hilft die Liegekur. Bloß woran liegt’s? An der dünnen Luft? Der Höhenstrahlung? Während mehr und mehr Patienten kommen, aus London, Paris, Moskau, Berlin, und ein gestrandeter Kapitän aus Holland 1890 die Rhätische Eisenbahn ins Rollen bringt, um Davos zu vernetzen, beginnen wissenschaftliche Pioniere, das »wunderthätige« Klima zu dokumentieren und zu untersuchen.

Von Neujahr 1886 an gibt der aus Hamburg zugereiste Ingenieur Carl Wetzel monatliche Wettertabellen heraus, die, bis zu 45.000fach gedruckt, an deutsche, englische, französische und belgische Ärzte zur Patientenakquisition verschickt werden: Viele Sonnentage, kaum Nebel und trockene Kälte sollen gerade im Winter für Davos werben. Gegen einen Aufenthalt spricht allenfalls »der Schneeglanz, der oft Augenentzündungen hervorbringt«, wie der Kurarzt Ruedi anmerkt, um sogleich »das schöne Grün der Wiesen und Wälder im Sommer« zu loben, »eine gute Mithülfe bei der Heilung«.

Der Ruf wird erhört. Im Jahr 1904 bringt der Königsberger Chemiker Carl Dorno seine einzige, schwindsüchtige Tochter nach Davos – aber zu spät, sie stirbt. Er bleibt und forscht. Seine Studie über Licht und Luft des Hochgebirges erregt 1911 großes Aufsehen und macht ihn zum Begründer der Bioklimatologie. Ihm erscheint die Strahlung bald wichtiger als die Atmosphäre; visionär sind seine Fragen: »Ist es nicht erstaunlich, daß erst an etwa einem halben Dutzend Orten der Erde auf Grund von Beobachtungen die Berechnung durchgeführt ist, wieviel Kalorien die Sonne der Erde im Jahresverlaufe zustrahlt? Und dies zu einer Zeit, da intensiv an dem großen Problem gearbeitet wird, die Sonnenstrahlung dem Menschen direkt nutzbar zu machen, gewissermaßen zum Ersatz des Kapitals, das das heutige … egoistische Zeitalter den Ersparnissen von Jahrtausenden (angelegt in Kohle und Kohlenwasserstoffen) raubt und trotz der großen Leistungen der Technik nur in einem kleinen Teil sich nutzbar zu machen versteht, den weitaus größten Teil nutzlos vergeudend.«

Während Dorno sich der UV-B-Strahlung zuwendet, die bis heute Dorno-Strahlung heißt, schießen die Spitäler wie Pilze aus dem Boden. Bald hat Davos zwei Bahnhöfe und 600.000 Übernachtungen jährlich. Dann kommt Katia Mann.

Sie berichtet ihrem Gatten brühwarm aus dem Waldsanatorium. Klatsch gibt es reichlich, weil die gesünderen unter den Patienten sich fürchterlich langweilen und jeder Ausschweifung zugetan sind. Thomas Mann kommt im Mai 1912, seine Frau zu besuchen und sich selbst ein Bild zu machen. Der Zauberberg braucht dann noch zwölf Jahre bis zur Vollendung. Inzwischen ist der Krieg durch Europa gezogen, und im Roman erscheint Davos retrospektiv als ein Ort des unheilvollen Ennui.

Mehr noch: Davos gerät in Verruf. Weil viele der Patienten sterben, liegt ein Hauch des Todes über der Stadt. Manch ein durchreisender Herr lässt seinen Chauffeur das Fenster schließen aus Furcht vor Ansteckung. Dass Tbc von einem Bakterium ausgelöst wird und hoch ansteckend ist, hatte ein gewisser Robert Koch in Berlin 1882 ja endlich herausgefunden. So erfährt Davos die Ambivalenz seiner Prominenz. Man lebt vom Sterben und umgekehrt. Denn als von 1950 an das Antibiotikum Streptomycin dem Mycobacterium tuberculosis den Garaus macht, werden die Moribunden plötzlich munter und bleiben fort. In Davos beginnt das große Kliniksterben, dem auch das Sanatorium zum Opfer fällt, in dem Katia Mann sich einst kuriert hatte.

»Sie hatte gar keine Tbc«, sagt Günter Menz, heute Chefarzt an der Davoser Hochgebirgsklinik. Sein Vorgänger habe ihm noch von ihrem Röntgenbild vorgeschwärmt: Eine schöne Bronchitis sei das gewesen. Aber als Thomas Mann, dem außer seiner Frau wenig fehlte, 1912 auf Besuch da war, wollten ihn die Ärzte am liebsten gleich auch noch dabehalten. Der Schriftsteller ergriff die Flucht. Dass dem Gesundheitswesen eine krank machende Tendenz innewohnt – das immerhin konnte er noch notieren, und seine Sottisen über die Geschäftstüchtigkeit der Ärzte hallen in Davos bis heute nach. Das muss man im Hinterkopf haben, wenn man sich über die Bedeutung des wunderthätigen Klimas heute unterhält. Die Tbc-Kranken sind vor vierzig Jahren aus Davos verschwunden, an ihre Stelle rücken nun Allergiker und Autoimmunkranke, von Asthma bis Schuppenflechte.

Allergisches Asthma ist eine Hysterie der Immunabwehr: Sie richtet sich gegen natürlich oder nicht natürlich in der Luft vorkommende Stoffe, die für sich harmlos sind und erst durch die entfesselte Abwehr im Körper Schaden anrichten.

Bald sind 40 Prozent aller Europäer allergisch; warum die Allergien zunehmen, kann letztlich niemand erklären. Zu den plausiblen Spekulationen zählt die Hygienetheorie: Weil wir als Kinder zu keimarm aufwachsen, bleibt unsere potente Immunabwehr unterfordert und sucht sich neue, sinnlose Ziele.

Für Davos trifft es sich, dass die dünne und an UV-Strahlen reiche Luft Allergikern gut tut – wenn auch niemand genau zu sagen weiß, warum. Das mag an den sonst allgegenwärtigen Hausstaubmilben liegen, die auf dieser Höhe nicht gut gedeihen.Oder an der Pollenarmut. Oder an eher geringen Konzentrationen industrieller Schadstoffe, die von den noch einmal um tausend Meter höher aufragenden Bergen abgehalten werden.

Uns begrüßt Frau Steiner, stammend aus Basel, die einst an der amerikanischen Ostküste, in London und in Frankfurt am Main als Forschungsleiterin gearbeitet hat. Die grauhaarige Pharmakologin ist eine Biotech-Managerin ohne jedes Faible für Spiritismus und Tüdelüt. Ihr Körper spielte jahrelang verrückt, eine Lungenentzündung nach der anderen, Antibiotika, in großen Mengen Cortison, nicht nur zum Inhalieren, sondern, wie sie es sagt, »zum Essen«.

Was ihr fehlte, erzählt die Patientin, habe kein Arzt herausfinden können. So tat sie es selber, mit Hilfe des Internet: Ihre Beschwerden passten zu einer seltenen, sehr schweren Allergie gegen allgegenwärtige Schimmelpilze. Dann las sie vom Davoser Arzt Günter Menz, der sich darauf verstehe, und schrieb ihm eine E-Mail. Er habe ihr, erinnert sich Sandra Steiner, binnen Tagesfrist zurückgeschrieben: »Kommen Sie vorbei!«

Sie kam vorbei, blieb und ist ihr Leiden inzwischen los. Wie viele andere, die hier – vielleicht auch der Ruhe wegen – trotz schwerer Allergien nahezu beschwerde- und medikamentenfrei leben können. Durch bloßes In-Davos-Sein. Seit einem Jahr nimmt Frau Steiner kein Cortison mehr und fühlt sich wie neugeboren. »Für mich«, sagt sie, »hat sich das Herkommen gelohnt.« Freilich hat sie einen Preis gezahlt. Ihren Spitzenjob gab sie auf und arbeitet nun auf einem ganz anderen Feld, in der Davoser Arbeitsgemeinschaft für Osteosynthesefragen, einem Institut, in dem man sich Gedanken macht, wie die beim Skilaufen gebrochenen Knochen möglichst elegant wieder zusammengefügt werden können.

Und Frau Steiner muss das Tiefland meiden. Drei, vier Tage vom Berg hinunter gingen noch, sagt sie. Würden es mehr, komme die Krankheit wieder: »Ich hatte die Wahl: Noch ein paar Jahre in meinem Job unterwegs zu sein und den Rest meines Lebens einen Sauerstoffschlauch durch die Nase zu haben – oder hierzubleiben.«

So landete eine weltgewandte Frau in einem weltabgewandten Tal, der Luft wegen, die ja eigentlich überall gleich sein sollte. Aber den Allergiker können eben kleinste Stäubchen umwerfen. »Was man alles einatmet«, sagt Sandra Steiner, »dessen ist man sich ja gar nicht bewusst.« Wie schmerzlich hat sie erfahren müssen, dass »die Lunge eine Außenfläche ist, wie die Haut«.

Die Lunge ist die wichtigste Schnittstelle zwischen Leib und Welt. Vier Wochen ohne Essen, vier Tage ohne Wasser, aber nur vier Minuten ohne Luft – dann ist Schluss. Aus einem Atemzug alle drei Sekunden holen sich die Alveolen den Sauerstoff ins Blut. Über die Gefäße erreicht er die Zellen; in deren Kern-Kraftwerken, den Mitochondrien, kommt es zur oxydativen Phosphorylierung – der feinstregulierten Energiegewinnung aus Nahrung und Luft.

Das Kohlendioxid, das dabei abfällt, fließt mit dem Blut zurück zur Lunge und wird ausgepustet. So schwingt jeder Körper mit im Ensemble der dampfenden Pflanzen, der blubbernden Meere und rauchenden Vulkane. Nichts ist hier statisch. Das Gas der Welt dringt in uns bis in unsere letzte Faser, und wir hauchen der Welt unseren Atem ein.

Quelle: http://www.zeit.de/2008/03/OdE12-Luft